Die Formel "Zeit ist Geld" ist wiederlegt. Anders als einen Euro kann man eine Minute nicht spenden oder vererben. Zeit kann man nicht einmal sinnvoll sparen, denn gesparte Tage werden noch schlechter verzinst als Tagesgeld bei der Sparkasse. Und während der Kontostand verrät, wie viel Geld man besitzt, weiß man nie genau, wie viel Zeit einem bleibt. Wer dennoch Zeit zu sparen versucht, bekommt nicht mehr davon, sondern stopft diese nur mit immer mehr Dingen voll. Und fühlt sich umso gehetzter. Höchste Zeit also für eine neue Zeitrechnung. Vielleicht bekomme ich ja mehr Zeit, wenn ich weniger davon spare - sie geradezu verschwende? Dicke Bücher, einsame Spaziergänge und Bahnreisen mit Signalstörung sind zeitraubend. Vielleicht lohnen sie sich gerade deshalb. Toll wäre auch, wenn einer dieser Schweizer Uhrenhersteller mal die langsamste Uhr der Welt erfinden würde. Oder die schnellster. Oder eine ganz persönliche. Wenn jeder seine persönliche Zeit hätte - mal mit einem 26-, mal einem 8,5-Stunden-Tag, mal mit 33 Minuten pro Stunden mal mit 143 -, dann wäre Koordination unmöglich. Wir würden ständig warten: auf Freunde, Anschlusszüge, den Weihnachtsmann. Weil wir nie wüssten, wie lange wir warten müssen, könnten wir uns währenddessen mit unsere Gedanken und Ideen beschäftigen. Zeit dafür hätte wir ja. Eine persönliche Uhr, die beim Warten hilft, würde mir gefallen. Mit ihr würde es wahrscheinlich zwar schon mittags dunkel, trotzdem läge der ganze Tag noch vor mir. Für so eine Uhr würde ich mein Erspartes opfern. Das Geld, meine ich.
Aus Zeit Wissen Nr. 6/2014 von Marcus Rohwetter
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